Meine persönliche Sichtweise und Beschreibung
Vielbegabung ist noch nicht exakt wissenschaftlich erforscht und als Begriff nicht genau definiert. Daher folgt hier meine persönliche Sichtweise und Beschreibung, die aus eigener Erfahrung und der Beobachtung anderer Vielbegabter resultiert:
Vielbegabte sind vor allem viel-interessiert. Neugier ist ihr zweiter Vorname. Zudem sind sie meist freiheitsliebend und intelligent.
In einem anerkannten, zertifizierten IQ-Test erreichen sie vielleicht nicht immer die bei uns als Grenze zur Hochbegabung definierte Marke von 130. Was unter anderem auch daran liegt, dass IQ-Tests nur Teilbereiche der Intelligenz abfragen (können). Kreative und emotionale Intelligenz beispielsweise bleiben dabei außen vor. Oder eben auch die Eigenschaft, über sehr viele Gaben zu verfügen. Dennoch sind viele Vielbegabte auch hochbegabt und erreichen die „magischen 130“ oder mehr bei einem der anerkannten IQ-Tests.
Für Vielbegabte ist das Universum gerade groß genug, um ausreichend Stoff gegen Langeweile zu bieten. Einfach alles ist interessant. Vielbegabte sind oft naturwissenschaftlich, sprachlich, emotional, kreativ und praktisch begabt. Das heißt, sie haben häufig mehrere Berufsausbildungen (nicht immer alle abgeschlossen), sie singen, malen, schreiben, legen Gärten an, nähen und verlegen ihren Parkettboden selbst. Ganz nebenbei lesen sie Bücher von Stephen Hawking, Terry Pratchett, Comics und Pflanzenbestimmungsbücher.
Sie gelten im Bekanntenkreis als sehr empathisch und scheinen sich immer einfühlen zu können, in das, was andere gerade umtreibt. Und sie haben große Herzen, in denen sich andere Menschen tummeln dürfen. Gleichzeitig legen sie hohe Wertmaßstäbe an, bei sich selbst und bei anderen. Charakter ist ihnen wichtig. In der Regel jedoch lieben sie alles, was auf unserer Erde so kreucht und fleucht. Und falls sie etwas nicht gar so inniglich lieben können, weil „es“ unübersichtlich viele wuselnde Beine hat, dann verlegen sie sich auf das Motto „leben und leben lassen“.
All das „erledigen“ sie „so nebenbei“. Sie nehmen Stimmungen wahr, also reagieren sie darauf. Sie interessieren sich, also lesen und/oder machen sie. Wenn sie danach gefragt werden, wissen sie oft gar nicht, wo sie ihr Wissen „aufgeschnappt“ haben. Es sammelt sich einfach an.
Vielbegabte wollen wissen, wie die Welt tickt. Wenn ihnen etwas begegnet, das sie nicht kennen oder verstehen, fragen sie. So erhalten sie interessante Informationen über die künstliche Bestäubung von Walnussbäumen, die Abrichtung von Hunden zur Trüffelsuche und das Schleifen der riesigen Spiegel für Spiegelteleskope.
Wunderbare Voraussetzungen also für ein glückliches, spannendes, reiches Leben inmitten von ihnen nahestehenden Menschen – wenn alles gut läuft:
Im Berufsleben finden sie sich häufig schwer zurecht. Ihre Lebensläufe sind bunt, geprägt von Wechseln und Brüchen, die für andere nicht nachvollziehbar sind. Besonders dann, wenn sie selbst noch nichts von ihrer/ihren Gabe/n wissen.
Denn häufig versuchen sie dann, sich anzupassen und „so zu sein wie alle anderen“. Beispielsweise versuchen sie, längere Zeit denselben Job zu behalten. Doch Arbeitsstellen mit streng hierarchischen Strukturen, unflexiblen Abläufen und eng begrenzten Arbeitsbereichen machen die meisten Vielbegabten auf Dauer unglücklich. Sie brauchen eher Möglichkeiten zum Über-den-Tellerrand-Schauen-und-Agieren. Wenn dies nicht gegeben ist, fühlen sie sich gleichzeitig unterfordert und gestresst. Dadurch geraten sie in eine Dauerbelastung, die irgendwann dadurch beendet wird, dass sie kündigen. Durch die ständigen Wechsel werden jedoch die nachfolgenden Arbeitsstellen immer schlechter, denn mäandernde Lebensläufe machen sie nicht gerade attraktiv auf dem Arbeitsmarkt. Was noch häufigere Jobwechsel zur Folge hat. Und schon beginnt eine Abwärtsspirale, die darin enden kann, dass hochbegabte, hochqualifizierte, interessierte und engagierte Menschen irgendwann nur noch minderqualifizierten Aushilfstätigkeiten nachgehen.
Auch können Vielbegabte gerade aufgrund dieser und ähnlicher äußerlich sichtbarer „Unstetigkeit“ in den Ruf geraten, nicht zu wissen, was sie wollen oder kein Durchhaltevermögen zu haben. Besorgte Menschen aus dem Bekanntenkreis versuchen vergebens „Realismus“ und „Kontinuität“ in ihr Leben zu bringen.
So wird das Feedback, das sie erhalten, negativ, ihre Selbstzweifel wachsen und ihr Selbstbewusstsein schwindet. Sie sind hin und her gerissen zwischen der Ahnung, dass sie richtig viel können und der Erfahrung, dass es doch nicht gut zu sein scheint, wie sie sind.
Glücklicherweise ist diese Beschreibung einer möglichen Abwärtsspirale nur ein Worst-Case-Szenario. Meist können es Vielbegabte trotz aller Selbstzweifel nicht verhindern, dass ihr Licht scheint. Andere Menschen auf der gleichen Wellenlänge fühlen sich von ihnen angezogen und erkennen ihr Potential. Bei den meisten Vielbegabten bricht sich früher oder später die nicht erkannte oder nicht wertgeschätzte Gabe ihre Bahn, und ein Prozess der Selbsterkenntnis, Selbstakzeptanz und Heilung kann beginnen.
Je früher eine Vielbegabung als solche erkannt wird und als echte Gabe akzeptiert wird, desto reicher und erfüllter das Leben. Und glaubt mir, dann ist das Universum wirklich gerade mal groß genug…
Eva Schürlein