Wenn ich mich mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Autismus-Störungen und der Hochbegabung in der Literatur beschäftige, erhalte ich so viele unterschiedliche Meinungen, dass es mich als Mensch mit differenzierten Gedankengängen und dem Anspruch der vollständigen Erfassung fast zerreißt vor Gedankensprüngen. Daher befasse ich mich sehr gern mit den Arbeiten von Andrea Brackmann. In “Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel?” (10. Auflage 2018) beschreibt sie dezidiert den Weg ihrer persönlichen Meinungsbildung und welche Indizien sie zu ihrer Hypothese bewegen, dass Autismus durchaus eine erweiterte Form einer Hochbegabung sein könnte.

Brackmann führt an, dass H. Asperger (“Heilpädagogik” 1952), der sich neben Kanner (Kanner-Syndrom, “schwere” Form) als einer der ersten Forscher ausführlich mit Autismus (“leichte” Form, Asperger-Syndrom) befasst hat, dieses Phänomen mit auffällig anderen Merkmalen beschreibt als heute im ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Conditions) verankert.

H. Asperger beschreibt autistische Kinder als “gescheit, schulversagend, mit differenzierten Seelenleben, überscharfem Denk- und Beobachtungsvermögen, disziplinär schwierig, scheinbar (!) gefühlsarm, feiner Gefühle fähig” (Brackmann, S. 2018,  139-140). Diese entsprechen durchaus auch den beobachteten Merkmalen von Hochbegabten.

Heute ist die Autismus Störung im ICD-10 als “tiefgreifende Entwicklungsstörung” beschrieben. Zugrunde gelegt wird eine komplexe Störung des zentralen Nervensystems. Im Kindesalter beginnend werden Störungen, insbesondere in der Wahrnehmungsverarbeitung beschrieben. Somit kommt es zu schweren Beziehungs- und Kommunikationsstörungen. Die Störungen behindern auf vielfältige Weise die Beziehungen zur Umwelt, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft, da sowohl kognitive als auch sprachliche, motorische, emotionale und interaktionale Funktionen betroffen sind.

Ich frage mich, wie diese “Störungen” in einer offenen Gesellschaft, welche von Gleichwürdigkeit und Integration geprägt ist, ausfallen würden. Hätten sie ebenso viel Gewicht? Würde es überhaupt zu einer Vielzahl dieser Störungsbilder bei den betroffenen Menschen kommen?

Ist die Definition per se dazu geeignet ein Handlungsspektrum abzuleiten und eine geistige Behinderung zu manifestieren? Oder werden Menschen mit diesen Merkmalen mehr als Behinderung empfunden? Da diese Empfindung jedoch höchst unmoralisch anmutet, wird der Mensch diagnostiziert und somit selber “verantwortlich” gemacht für den Umgang mit ihm, in einer dysfunktionalen Gesellschaft.

Immer wieder erfahre ich von Familien mit hochbegabten Mitgliedern, welche mit Doppeldiagnosen ausgestattet sind. Ihre Wege damit umzugehen sind vielfältig.

Bisher steht für die Autismusstörungen kein anerkanntes Erklärungsmodell aus der Wissenschaft zur Verfügung. Und trotzdem ist es, wie oben beschrieben, im ICD-10 als Erkrankung und Behinderung erfasst.

Warum ist es dann nicht zugehörig (erweitert) zur Hochbegabung zu sehen? Zugehörig zur Hochsensibilität zu sehen? Wenn es doch in Masse überschneidende Merkmale hat?! Und erst recht, wenn ebenfalls eine Hochbegabung erkannt wurde.

Soll es wirklich davon abhängig sein an welche Spezialisten die Eltern geraten? Davon abhängen wie das Umfeld mit den speziellen Merkmalen umgeht? Damit korrelieren, dass nur eine Diagnose für Hilfe in Fremdbetreuung und Schule sorgt? Wer manifestiert das “Normal”? 

Einer der deutlichsten Unterschiede zu Merkmalen der Hochbegabung und der Hochsensibilität wurde im deutschen Ärzteblatt geschildert. Es sei notwendig “[…] dass das auffällige Verhalten situationsübergreifendes und grundlegendes Funktionsmerkmal der gesamten Entwicklung ist und nicht gebunden ist an bestimmte Situationen (zum Beispiel nur außerhalb der Familie) oder ausgelöst wurde durch kritische Lebensereignisse (beispielsweise Trennung der Eltern). “ (Deutsches Ärzteblatt, Jg. 104, Heft 13, 30. März 2007)

Andrea Brackmann befasste sich (nicht empirisch), in ihrer täglichen Praxis mit der überzufälligen Häufung und den qualitativen Übereinstimmungen “autistischer Symptome”. Sie bemerkte für sich, dass Kinder mit autistischen Zügen bei IQ-Testungen unter folgenden Testvoraussetzungen sehr hohe Punktzahlen in den Untertests erreichen können. Nämlich wenn:

1. Die Aufgaben eindeutig waren, 

2. Diese keine Kommunikation erforderten,

3. Ohne Zeitdruck auszuführen sind, und

4. Die Konzentration auf nur einen oder wenige Aspekte möglich ist.

Meine Annahme daraus: Kulturtechnikfreie Testverfahren ermöglichen eine reale Abbildung von IQ Punktzahlen von Kindern mit autistischen Zügen. Und weiter sowie spitzer formuliert: Gibt es überhaupt Menschen im Autismus-Spektrum welche Minderbegabung aufweisen, wenn kulturtechnikfreie Testverfahren angewandt werden? Weiterhin berücksichtigend, dass ca. 20% zu rastlos oder introvertiert sind, dass eine Testung nicht möglich ist, und diese als geistig behindert eingestuft werden. (!) Es fehlen schlichtweg geeignete und spezifische Testverfahren für autistische Menschen, um ein Gesamtbild des Intelligenzniveaus umreißen zu können. (Poustka at. Al., 2004)

“Wie erklärt man, dass sich die klinischen Auffälligkeiten des Betroffenen weitgehend zurückbilden, wenn er über seine Spezialinteressen sprechen kann? Und wie ist es möglich, dass eine Person, die über umfassende Kenntnisse der Astronomie verfügt, lediglich einen Intelligenzquotienten von 79 erreicht?” (Brackmann, S. 148)

Brackmann postuliert weiterhin, dass Inselbegabungen ohne das Vorhandensein von hohen kognitiven Voraussetzungen unmöglich sind. Da diese jedoch nicht in das enge Korsett der Gesellschaft zu passen scheinen, werden sie ausgesiebt und erhalten nur mit großer Kraftanstrengung des näheren Umfeldes die Möglichkeiten auch beruflich in hoch spezialisierten, akademischen Berufen fuß zu fassen.

Brackmann möchte den Leser mit ihrer gewagten Hypothese ermutigen, die beiden Begriffe “Begabung” und “Behinderung” zusammen zu denken.

“Autismus wäre demnach eine extrem ausgeprägte Form von geistiger, emotionaler und sensorischer Übererregbarkeit”. (2018, S. 152)

Ein Autist somit “extrem hochbegabt”.

Quellen:

  1. http://www.polygonos.de/Autismus-Spektrum/Aerzteblatt_03-2007.pdf

  2. Andrea Brackmann “Jenseits der Norm – hochbegabt und hoch sensibel?” (10. Auflage 2018)