Kennst du dieses Gefühl: Alles um dich herum scheint normal. Menschen wuseln um dich herum. Manche amüsieren sich, andere arbeiten. Ihr seid auf einem wunderschönen Schiff mit einem phantastischen Ziel. Du siehst etwas in der Ferne, durch den dichten Nebel. Dir wird plötzlich klar: Ihr fahrt auf einen Eisberg zu.

Panik bricht in dir aus. Nicht wegen des Eisbergs, sondern weil scheinbar kein anderer ihn wahrnimmt. Auch die Überwachungs- und Steuerungsinstrumente des Schiffes scheinen keine Notiz von ihm zu nehmen. Sonst würdest du ja eine Kursänderung wahrnehmen. Du schaust dich um. Es geht wirklich alles ganz normal weiter. Also ist klar: Du halluzinierst. Du musst verrückt sein. Du hast es ja immer schon geahnt.

Doch der Eisberg wirkt so real. Du traust dich und sprichst den zuständigen Matrosen an. Er winkt ab: Eisberge? Auf unserer Route? Kann es gar nicht geben. Der Kurs ist perfekt geplant. Du versuchst, dich zu beruhigen. Du musst schließlich arbeitsfähig bleiben. Du hast ja noch was zu tun.

Doch der Eisberg kommt immer näher. Falls er doch real sein sollte, dann, so rechnet dein Gehirn schnell aus, müsstet ihr in den nächsten 5 Minuten eine Kurskorrektur einleiten, um eine Kollision zu vermeiden. Jetzt bricht Panik bei dir aus. Du nimmst all deinen Mut zusammen und gehst direkt zum Kapitän. Der Kapitän sagt, er müsse sich erstmal ein genaues Lagebild verschaffen. Er ruft seine ganze Mannschaft zusammen, um sich von jedem Bericht erstatten zu lassen. Dir bricht der Schweiß aus. Der Eisberg kommt näher. Er sieht sehr real aus. Die Kurskorrektur muss innerhalb der nächsten 90 Sekunden erfolgen, das ist dir klar. Dir ist auch klar, dass innerhalb der nächsten 90 Sekunden hier gar nichts passieren wird.

Keine Panik auf der Titanic! Oder doch?

Wenn dir dieses Gefühl bekannt vorkommt, bist du wahrscheinlich ein Mensch mit besonders hoher Auffassungsgabe, kannst Situationen schnell erfassen und einschätzen, verknüpfst Informationen rasch und entwickelst direkt Lösungen, auch in unwägbaren Lagen und unter Unsicherheit. Dein Arbeitsumfeld fühlt sich für dich manchmal an wie die Titanic: Schwer, klobig, wuselig, unstrukturiert, mehr aufs Vergnügen als auf die Aufgaben ausgerichtet, ziel- und planlos, kaum steuerbar. Wie kann es sein, dass du ein Problem erkennst, dass der gesamten Abteilung des strategischen Monitorings entgeht? Wie kann es sein, dass du eine Lösung siehst, wo das Projektteam seit drei Monaten ergebnislos diskutiert und das Management das Projekt für gescheitert erklären will? Ist es da nicht wahrscheinlich, davon auszugehen, dass du an heilloser Selbstüberschätzung leidest?

Andererseits, solche Fälle sollen ja durchaus schon vorgekommen sein: Dass das Vertrauen in ein bestehendes System so stark war, dass das ganze System gegen den Eisberg gefahren ist. Also dürfte es auch Menschen geben, die das voraussehen.

Nur, was kann ein solcher Mensch, nennen wir ihn als Helden unserer Geschichte Erwin, dann tun?

Prinzipien- und Regeltreue. Das Schiff sinkt …

In einem ersten Moment möchte Erwin sich selbst treu bleiben. Er ist ein gewissenhafter Mensch. Regeltreue ist bei ihm hoch ausgeprägt. Gleichzeitig hat er zeit seines Lebens das Feedback erhalten, ein schlauer Kopf zu sein. Er hat viele Diplome und Zertifikate in seinem Aktenschrank, die das bestätigen. Er hat also auch gelernt, grundsätzlich seinem Urteilsvermögen zu vertrauen. Und das sagt: Eisberg voraus, Steuer herumreißen. Erwin hat auch hohe moralische Grundsätze. Er liebt die Gerechtigkeit und setzt sich für Schwächere ein. Erwin ist außerdem ein vorsichtiger Mensch. Er wägt Risiken genau ab, bevor er sie eingeht. Er liebt die Harmonie. Konflikte löst er gerne schnell und gegebenenfalls auch zu seinen Lasten.

All diese Emotionen streiten in Erwin für und wider. Sie motivieren ihn, den Kapitän in eine Diskussion darüber zu verwickeln, ob der Eisberg eine optische Täuschung sein könnte – wie weit der Eisberg entfernt ist, falls er keine optische Täuschung ist – wie lang der Bremsweg der Titanic ist – wie die Passagiere reagieren würden, wenn das Schiff nun mit voller Kraft in die Kurve oder Bremsung ginge —

RUMS.

Der Kapitän und Erwin diskutieren ehrenhaft, regeltreu und rational weiter. Über die Kapazität der Rettungsboote, darüber, wie schnell Helfer an der Unfallstelle sein werden. Nur übers dann erfolgende Erfrieren nicht. Ist das Ende befriedigend?

Ungehorsam und Aufopferung. Held oder Verbrecher?

Schauen wir uns eine nächste Variante an: Statt sich auf eine Diskussion mit dem Cäpt’n einzulassen, stößt Erwin ihn beiseite und drückt ein paar Knöpfe auf der Steuerungskonsole. Sofort geht ein Ruck durch das Schiff, Menschen purzeln durcheinander. Bei den Passagieren herrscht heilloses Chaos. Sektgläser fliegen durch die Luft, Stühle fallen um, Platten mit Essen gleiten auf den Boden und schliddern über das Deck. „Sie sind verhaftet!“ brüllt der Kapitän. Erwin wird in die Arrestzelle gesperrt. Das Schiff ändert seinen Kurs und fährt zurück in den Hafen. Die Passagiere stellen hohe Schadensersatzforderungen aufgrund ihrer ruinierten teuren Garderobe, kleinerer Blessuren und entgangener Urlaubsfreude.

Erwin wird fristlos gekündigt und angeklagt. Seine Auffassung, dass nur die Einleitung des Brems- und Wendemanövers eine Kollision mit dem Eisberg mit unabsehbaren Konsequenzen abgewendet hat, lässt sich nicht mehr nachprüfen. Der Kündigungsschutzprozess endet gegen Abfindung, das Strafverfahren wird gegen Auflage eingestellt. Erwin beantragt Frührente aufgrund psychologischer Beeinträchtigungen. Da sich auch alle seine privaten Kontakte schamhaft von ihm abwenden, fühlt er sich immer mehr hingezogen zu Sachverhalten, die ihm bestätigen, dass er ein einsamer Outlaw ist.

Selbstschutz

In der nächsten Variante stellt Erwin fest, dass er den Kapitän nicht rechtzeitig wird überzeugen können. Er fühlt sich frustriert und ohnmächtig. Zugleich ist er verängstigt – zu Tode. Die Todesangst gewinnt bei ihm die Überhand. Er läuft zu einem Rettungsboot, springt hinein, löst die Leine und fährt davon. Er macht sich große Vorwürfe, als er aus sicherer Entfernung beobachten muss, wie die Titanic den Eisberg schrammt. An Bord ist inzwischen das Chaos ausgebrochen. Jeder versucht, sich in Sicherheit zu bringen.

Glück im Unglück ist die Katastrophe nicht ganz so schlimm, wie von Erwin befürchtet: Nur ein Todesopfer ist zu beklagen und einige Leichtverletzte. Erwin ist das Ganze sehr peinlich, gleichzeitig ist er erleichtert. So wirklich gut fühlt er sich nicht. Es hätte doch eine Lösung geben müssen, in der alle Interessen unter einen Hut kommen?

Zieländerung oder Internalisierung

Erwin ist noch nicht im Hafen der Lösungsmöglichkeiten angekommen. Uns bleiben noch zwei Wege offen, die beide mit Lächeln verbunden sind:

Entweder …
… setzt sich Erwin entspannt lächelnd in Meditationshaltung aufs Deck. Er hat beschlossen, das nicht Änderbare hinzunehmen und seine verbleibende Lebenszeit in schönen Gedanken zu verbringen.

Tatsächlich ist das für unheilbare Idealisten eine schwierige Haltung. Ist sie für dich erstrebenswert?

Oder …
Erwin lächelt verschmitzt. Denn gerade hat der Kapitän per Funk eine Anweisung des Admirals erhalten, sofort den Kurs zu ändern, so dass ein Zusammenstoß mit dem Eisberg vermieden wird.

Wie ist das möglich geworden?

Nun, Erwin hat sich bereits längere Zeit mit den Persönlichkeiten seiner Vorgesetzten auseinander gesetzt. Er hat viel in den Beziehungsaufbau investiert. Über die Zeit hat der Admiral (anders als der Kapitän) Erwins rasche Auffassungsgabe und seinen kritischen Geist zu schätzen gelernt. Das Vertrauen des Admirals in Erwin ist stetig gewachsen.

So kommt es, dass der Admiral keine Sekunde zögert, als Erwin ihm auf dem kleinen Dienstweg Bericht erstattet.

Anders als im Fall des eigenmächtigen Eingreifens drohen Erwin hier auch keine Konsequenzen.

Die Titanic kommt sicher an ihr Ziel.

Das Dilemma der Hochbegabten

Das wahre Dilemma an dieser kleinen Geschichte: Sie spiegelt das grundlegende Lebensgefühl vieler hochbegabter Menschen wider. Wir befinden uns buchstäblich tagtäglich auf Titanic, den Eisberg in Sicht. James T Webb nennt dieses Phänomen die ‚existentielle Depression‘ der Hochbegabten.

Wie lässt es sich trotz dieses Dilemmas das Leben mit Leichtigkeit und Entspannung genießen? Jede_r darf seinen eigenen Weg finden. Je bewusster du dir deiner individuellen Besonderheiten wirst, desto einfacher kannst du Lösungen finden, deinen Alltag befriedigend zu gestalten. Sei es, das Umfeld zu wechseln, sei es, Beziehungen aufzubauen, in denen deine besonderen Fähigkeiten geschätzt werden, sei es, sich in liebevoller Akzeptanz zu üben.