Auch Hochbegabte und Hochsensible tauschen sich gerne im Internet in Foren, Facebook-Gruppen und ähnlichen über ihre Themen aus. Das ist auch gut so, aber leider finden sich dort auch viele Fehlinformationen oder werden gar „Diagnosen“ von fremden Laien online gestellt. Dies kann Menschen, die gerade erst beginnen, sich mit den Hoch-X-Themen auseinanderzusetzen oder die gar tatsächlich an einer beeinträchtigenden Störung leiden, tief verunsichern. Deshalb möchte ich mit einigen mir häufig unterkommenden Irrtümern aufräumen.
Besonders häufig erlebe ich, dass sich Eltern von (von den Eltern selbst oder von Schule/Umfeld) als „schwierig“ empfundenen Kindern online austauschen und dabei dann gleich merere verschiedene „Ferndiagnosen“ gestellt werden: HB, HS, ASS, ADS, ADHS, AVWS, gerne auch alle gleichzeitig! Die zu Grunde gelegten „Kriterien“ können sein: hat keine bis wenig Freunde, spielt nicht (gerne) mit Gleichaltrigen, zieht sich sehr zurück, ist Opfer von Hänseleien/Mobbing, ist schnell überreizt, hat häufige Wutanfälle, ggf. mit aggressivem Verhalten, aufgrund geringfügiger bzw. allgemein nicht nachvollziehbarer Anlässe, fühlt sich in der Schule unwohl, hat schlechte Noten, ist schnell gelangweilt, verweigert Schule/Hausaufgaben, hat ein Hobby, das es intensiv beschäftigt, lernt lieber außerhalb der Schule, interessiert sich für altersuntypische Themen, weint schnell, leidet schnell und stark mit anderen (Menschen und Tieren) mit, Entwicklung ist altersuntypisch weit fortgeschritten (kann vor der Schule Lesen und Rechnen) oder zurückgeblieben (Kind spricht auch mit 2,5 Jahren noch nicht), verweigert Kooperation bei ärztlichen Untersuchungen, ist sehr schmerzempfindlich, …
Diese Kriterien sprechen weder jeweils einzeln noch zusammen (!) ohne Weiteres für das Vorliegen einer Hochbegabung und Hochsensibilität, genauso wenig wie für eine Diagnose einer Konzentrationsstörung (AD(H)S) oder einer aus dem Autismusspektrum (ASS). Im Grunde geht es um wenige große Problemfelder: Konzentrationsmangel und Überreizung sowie Rückzug und Aggressivität. Tatsächlich kann jedes dieser Problemfelder mit den genannten Besonderheiten in Verbindung stehen:
Scheinbarer Konzentrationsmangel
Hochbegabung kann zu Unterforderung und Langeweile in der Schule führen, die wie ein Mangel an Konzentration (wegträumen oder Unterricht stören statt mitarbeiten) wahrgenommen werden können. Tatsächlich sind Hochbegabte sehr konzentrationsfähig – wenn sie entsprechend motiviert sind.
Eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS) führt tatsächlich dazu, z.B. den Lehrer im Klassenraum nicht richtig verstehen zu können. Diese Überforderung im Hörverständnis wird dann als Konzentrationsmangel wahrgenommen. Hochsensibilität kann dazu führen, in Räumen mit vielen Menschen, z.B. Kindergarten oder Klassenzimmer, durch die überdurchschnittlich intensiv wahrgenommenen Reize nach kürzerer Zeit als andere Kinder überfordert zu sein. Die einzige echte Konzentrationstörung schließlich ist das Aufmerksamkeitsdefizit (ggf. mit Hyperaktivität) Syndrom (AD(H)S). Nur hier fällt es den Kindern tatsächlich schwer, sich zu konzentrieren.
Wahrgenommene Überreizung
Überreizung ist bereits ein sehr unspezifischer Begriff. Er ist zutreffend, wenn Hochsensible vielen Reizen (Licht, Geräusche, andere Personen, etc.) ausgesetzt sind und sich in diesen Situationen nur sehr viel kürzer wohl fühlen bzw. (gerade als Kinder) sozialadäquat interagieren können als andere, d.h. häufigere Ruhephasen/Pausen/Rückzug benötigen (würden). Hochbegabte sind (wenn sie nicht tatsächlich zugleich hochsensibel sind), nur sehr schwer zu überreizen – sie lechzen vielmehr nach neuen Informationen und Eindrücken. Allerdings sind sie meist wenig tolerant gegenüber „Small talk“ bzw. als Kinder gegenüber den alterstypischen Spielen. Zudem entlarven sie bereits altersuntypisch früh hypokrites, ungerechtes oder sinnlos-überflüssiges Verhalten und verweigern sich diesem / protestieren hiergegen. Auch solches Verhalten kann als Überreizung wahrgenommen werden, hat aber natürlich gar nichts damit zu tun. Kinder, die an einer Störung aus dem Autismus-Spektrum leiden, insbesondere solche der Asperger-Variante, bei der die intellektuelle Entwicklung altersgerecht bzw. sogar weiter fortgeschritten ist, können in Situationen mit vielen Reizen, besonders ungewohnten oder neuen, nicht sozialadäquat interagieren. Diese Kinder benötigen besonders viel Strukturen und Routinen in ihren Abläufen und können mit Veränderungen schlecht umgehen. AD(H)S-Kinder wiederum können als „überreizt“ wahrgenommen werden, weil sie den an sie in Bezug auf Aufmerksamt und Konzentration gestellten Erwartungen nicht entsprechen können und diese Frustration sich dann ein Ventil suchen muss.
Rückzug oder Aggressivität
Ist ein Mensch überfordert, kann er entweder mit Rückzug (ggf. Autoaggression) oder Aggression (gegenüber anderen) reagieren. Insofern können Rückzug oder aggressives Verhalten Indizien für eine Überforderung sein. Diese Überforderung kann resultieren aus einer tatsächlichen Unterforderung (HB) oder nicht erfüllbaren Erwartungen an Reizverarbeitung (HS, AVWS) bzw. Aufmerksamkeitsleistung (AD(H)S). Gerade Rückzug kann allerdings auch schlicht den adäquaten Umgang mit den eigenen Besonderheiten (der bei Erwachsenen eher als bei Kindern akzeptiert wird) darstellen, namentlich bei Hochbegabten, denen die Spiele ihrer Altersgenossen zu langweilig/nicht interessengerecht sind, Hochsensiblen, die ihre (häufigeren) Ruhephasen benötigen, Menschen mit ASS, für die soziale Interaktion mit besonderen Anstrengungen verbunden ist. Aggressivität wiederum kann bei hochbegabten Kindern eine (eher seltene!) Reaktion auf mangelndes Verständnis ihres Umfelds sein, d.h. wenn sie nicht verstehen, warum sie „falsch sind“ (bspw. Hänseleien als „Streber“, Eltern weisen sie zurecht, nicht so „altklug“ zu sein oder reagieren auf ihre ständige Neugier mit „Basta!“ o.ä.), und versuchen, sich hiergegen (aufgrund der alterstypischen emotionalen Entwicklung, die gerne vergessen wird, nicht intellektuell!) zu „wehren“.
Individuelles Eingehen auf Bedürfnisse
Ich hoffe, ich konnte deutlich machen, dass – gerade bei Kindern – ein sensibles, tiefgreifendes Beobachten und Verstehen der jeweiligen Besonderheiten erforderlich ist, um adäquat auf die jeweiligen Bedürfnisse einzugehen. Hierbei kann das Einordnen in bestimmte Kategorien oder eine ärztliche Diagnose helfen, aber eben auch nur wenn sie a) fachlich – ggf. auch durch mehrere (!) Spezialisten abgesichert ist und b) sich hieraus konkrete Vorteile ergeben (es darf eine Klasse übersprungen oder eine besondere Schulform besucht werden, die Krankenkasse bezahlt bestimmte Therapien oder Kurse, relevante Personen im Umfeld, z.B. Lehrer, „glauben“ den Eltern mehr und zeigen mehr Verständnis, etc.). Für den virtuellen Austausch unter Betroffenen wünsche ich mir, dass weniger mit Bewertungen in Form von Kategorien und Diagnosen „um sich geworfen“ wird, als dass angeregt wird, sich vertiefter mit den Themen auseinanderzusetzen sowie vergleichbare Fallgeschichten und konkrete Hilfestellungen als Denkanstöße und offene Angebote unterbreitet werden. Wer weiß, dass es ihm schwerfällt, beim virtuellen Austausch eine gewisse kritische innere Distanz zu wahren, dem empfehle ich, entsprechende Foren, Facebook-Gruppen, usw. eher zu meiden und sich stattdessen auf Seiten von Fachexperten zu informieren.