Hochbegabte stehen vor besonderen Herausforderungen, hochbegabte Migranten vor ganz besonderen. Neben den typischen Schwierigkeiten hochbegabter Kinder und Jugendlicher sind hochbegabte Heranwachsende mit Migrationshintergrund zusätzlichen vielfältigen Schwierigkeiten ausgesetzt, deren genauere Betrachtung wichtig ist – für die Gesellschaft und ihr Bewusstsein für diese Thematik, für die Entwicklung neuer notwendiger pädagogischer Konzepte und nicht zuletzt für das Selbstverständnis Hochbegabter selbst.  Ein Versuch der Aufklärung.

Stereotype

Stereotype spielen in der Gesellschaft eine große Rolle. Migranten, die hier im Fokus der Betrachtung stehen, werden in der Regel weniger Bildungschancen und eine geringere Intelligenz zugeschrieben. Hochbegabte Kinder mit Migrationshintergrund haben als Folge oft geringe Erwartungen an sich selbst, ein geringeres Selbstvertrauen und geringere Erfolgserwartungen. Dadurch ergibt sich eine  geringere  Bereitschaft,  Erfolge in  der  Schule  anzustreben, wodurch weniger Kinder mit Migrationshintergrund als hochbegabt identifiziert werden können.

Kulturell bedingte Probleme

Kulturelle Einstellungen und damit verbundene Erwartungen werden von Generation zu Generation übertragen. Unweigerlich entstehen dabei kulturell verursachte Schwierigkeiten, die sich natürlich bei allen Kindern mit Zuwanderungsgeschichte zeigen. Viele Migranten tradieren Werte und Gepflogenheiten, die mit denen der Aufnahmegesellschaften in Widerstreit bzw. mit ihnen inkompatibel sind. Ausländische Eltern unterschätzen oft das Potential ihrer Kinder und wissen gar nicht um das Phänomen Hochbegabung. Mangelnde Bildung oder auch das fehlende Bewusstsein für die Hochbegabung in ihrer Ursprungskultur sind die Gründe hierfür. All das erschwert die Identifizierung hochbegabter Kinder massiv. Es ist wichtig, Aufklärungsarbeit zu leisten und zu verdeutlichen, dass es gleich viele Kinder mit und ohne Migrationshintergrund gibt.

Sprache und Sprachdefizite

Vor allem eine mangelnde sprachliche Fähigkeit wird von Lehrkräften häufig irrtümlich als Anzeichen geringerer Begabung interpretiert und führt unweigerlich zu geringeren Erwartungen. Man bedenke, dass die deutsche Sprache für Kinder und Jugendliche eine Fremdsprache sein kann und in ihr der ganze Schulstoff durchlaufen wird. Es ist selbsterklärend, dass es zu Verständigungsschwierigkeiten und einer deutlich längeren Bearbeitungszeit kommen kann. Es sei davor zu warnen, von einer langsameren Aufgabenbearbeitung automatisch auf ein geringeres Leistungspotenzial zu schließen. Auch sei auf die manchmal fehlenden Bildungsinhalte aus der deutschen Kultur bei Kindern und Jugendlichen ausländischer Herkunft hingewiesen. So können beispielsweise Kenntnisse deutscher Märchen fehlen, die in Intelligenz- oder Hochbegabungstests für Kinder die Basis sind. Testergebnisse werden somit durch kulturelles Erleben (negativ) beeinflusst. Bei der Anwendung diagnostischer Methoden auf hochbegabte Migrantenkinder muss ihr Sprachniveau berücksichtigt werden, wobei Defizite der Sprachkenntnisse nicht mit mangelnder Intelligenz zu verwechseln sind.

Institutionelle Diskriminierung

In der Institution Schule wirkt – nach RAISER (2010, S. 14, vgl. GOMOLLA & RADTKE, 2002) – ein verdeckter Mechanismus der institutionellen Diskriminierung. Hochbegabten Kindern mit Migrationshintergrund fehlt aufgrund ihrer kulturell tradierten Werte der entsprechende Habitus der Aufnahmegesellschaft: „Man muss den richtigen Verhaltenskodex kennen, um in der Schule erfolgreich zu sein, das ist die eigentlich unangenehme Botschaft der PISA- und IGLU-Studien der letzten Jahre, wie auch der Deutschen Bildungsberichte 2008 und 2010“ (RAISER, 2010, S. 14–15).  Da sie den sozialen Code nicht dechiffrieren können, haben es Kinder mit einem anderen sozialen Gefüge – bei gleichen Leistungen – schwerer als ihre Mitschüler aus deutschen bildungsnahen Familien.

Rassistische Diskriminierung durch Lehrer und Assimilationsängste der Eltern

Ethnische Diskriminierung gibt es überall, auch im Bildungssystem. Aus dem Bedürfnis heraus, ihre Kinder vor möglicher oder tatsächlicher Diskriminierung zu schützen, und auch aus Angst davor, ihre Kinder entwurzelt zu sehen, gänzlich angepasst an (ihnen nicht vertraute oder für sie nicht akzeptable) Werte der Aufnahmegesellschaft, hindern Eltern nicht selten ihre Kinder (unbewusst) an ihrem persönlichen und beruflichen Erfolg. Die Diskriminierung in der Aufnahmegesellschaft auf der einen Seite und die nicht erfüllbare Erwartungshaltung der Eltern sowie ihr stetes Wachen über die kulturelle Zugehörigkeit ihrer Kinder auf der anderen Seite, können für eine enorme Spaltung und Zerrissenheit bei Heranwachsenden führen und sich in vielerlei Hinsicht dysfunktional auswirken. Die ethnische Diskriminierung in Bildungseinrichtungen sowie die Assimilationsängste ausländischer Eltern müssen ins öffentliche Bewusstsein rücken.

Hoher Stellenwert des Kollektivismus

Die Begriffe Begabung bzw. Hochbegabung sind im deutschsprachigen Raum vornehmlich kognitiv konnotiert, und kognitive Potenziale genießen eine hohe Wertschätzung. Treffen beispielsweise Migrantenkinder aus kollektivistisch ausgerichteten Kulturen auf individualistisch orientierte, wird persönliches Erfolgsstreben nur bei gleichzeitigem Nutzen für die eigene Identifikationsgruppe gebilligt (vgl. KEMPTER, 2011, S. 20). Ferner spielt in vielen Kulturen der Lehrer als Autorität eine große Rolle. Die Artikulation von Standpunkten, die mit älteren Gruppenmitgliedern nicht konform sind, kommt hier einer persönlichen Beleidigung oder einem Verstoß gegen gesellschaftliche Konventionen gleich. Eine eigenständige Meinungsbildung ist Kindern und Jugendlichen dieser Kulturkriese fremd. Sie müssen eine Streitkultur erlernen, in der es um Argumentationen geht und der Lehrer nicht primär als Autoritätsperson, sondern als Lernbegleiter gesehen wird. Diese Kompatibilitätsschwierigkeiten können langfristige Folgen bis ins Erwachsenenalter hochbegabter Migranten haben.

Der defizitäre Blick der Pädagogen, Eltern und der Gesellschaft – fehlendes Wissen und unzureichende (interkulturelle) Kompetenz

Der defizitäre, meist unbewusste Blick der Pädagogen, Eltern und der Gesellschaft im Allgemeinen haben die größte Auswirkung auf das Innen- und Außenleben (hoch-)begabter Kinder und Jugendlicher mit Migrationshintergrund. Forschungen zeigen, dass die Erwartungen der Pädagogen für den schulischen Erfolg ihrer Schüler eine besondere Rolle spielen. Am bekanntesten sind der Pygmalion-  und  der  Golem-Effekt,  die außergewöhnliche Leistungszuwächse  bzw.  -abfälle  aufgrund positiver bzw. negativer Lehrererwartungen beschreiben. Besonders begabte Kinder sind abhängig davon, ob Eltern und Lehrer ihre Begabung erkennen. Die Wahrscheinlichkeit, hochbegabte Schüler ohne Migrationshintergrund zu erkennen ist weitaus größer als bei Kindern mit Migrationshintergrund.

In Deutschland fehlt eine Sensibilisierung von Lehrkräften und Eltern für das Thema Hochbegabung, um das Potenzial von (hoch-)begabten Kindern und Jugendlichen mit oder ohne Migrationshintergrund zu erkennen. Leider herrscht immer noch eine Defizitorientierung, wenn es um hochbegabte Migrantenkinder geht: Hier wird der Fokus der Lehrkräfte häufig auf Defizite gesetzt, nicht auf die Ressourcen.

Ein Kernproblem in der Begabungsforschung ist der Ethnozentrismus. Gebräuchliche Hochbegabungskonzepte, wie sie in aller Regel von der Mittel- und Oberschicht definiert sind, haben ungleiche Auswahlchancen zur Folge. So werden alle, auch die in anderen kulturellen und sprachlichen Umfeldern sozialisierten Menschen durch unsere kulturelle Brille mit ihren ganz spezifischen Filtern beurteilt, was bedeutende Auswirkungen auf die Beurteilung kognitiver Fähigkeiten haben kann. Verschiedene Studien belegen, wie sich Begabungs- und Intelligenzkonzeptionen sowie Vorstellungen von intelligentem Handeln von Kultur zu Kultur unterscheiden und vom Weltbild der Wissenschaftler beeinflusst sind. Bei der Begabungsförderung sollten folglich konventionelle Tests vermieden werden, um soziale Asymmetrien und Ungerechtigkeiten zu vermeiden.

Peer-Groups

Die (kulturelle) Identitätssuche stellt für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund vielleicht die größte Schwierigkeit überhaupt dar. Das Gefühl der Zerrissenheit, das Leben zwischen zwei Welten wird zu einem zentralen Thema – unter Umständen ein Leben lang. Der Peer-Group kommt hier eine besondere Bedeutung als Sozialisationsinstanz zu. Werden in der Peer-Group schulische Leistungen nicht geschätzt, verschleiern hochbegabte Schüler ihre Fähigkeiten bewusst, um Akzeptanz zu finden. Um sich weiterentwickeln zu können, müssen sie aus ihrer Peer-Group und nicht selten auch aus ihrem Kulturkreis ausbrechen oder sich entfernen, da sie hier kein Verständnis mehr für ihre Entwicklung finden. (Gefühlte) Zurückweisung und Nichtakzeptanz im eigenen Kulturkreis sind nicht selten die Folge, was die Zerrissenheit zwischen den Kulturen noch verstärkt und damit zu schlechtem Selbstwert, Depressionen und Suizidalität führen kann.

Genderaspekt

Laut dem Bundesministerium für Bildung und Forschung bekommen hochbegabte Mädchen in Gesellschaft und Bildungswesen geringere Aufmerksamkeit und Förderung als Jungen (BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG, 2006, S. 31, 43, 48–49). Hochbegabte Mädchen mit Migrationshintergrund unterliegen einer weiteren diskriminierenden Belastung durch die patriarchalisch geprägten Strukturen ihrer Ursprungskultur. Sie verstehen mehr als hochbegabte Jungen mit Migrationshintergrund, welche Rolle der Bildung zukommt: Sie ist der einzige Weg, um aus dem konservativen Milieu der Eltern auszubrechen und den oft nicht zu erfüllenden Erwartungen der Eltern zu entkommen.

Das Lebensgefühl hochbegabter Heranwachsender mit Migrationshintergrund

Das Lebensgefühl (hoch-)begabter Heranwachsender ist nicht selten geprägt von ernsthaften Identitätsproblemen wie sie auch von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ohne außergewöhnliche Begabungen bekannt sind. Die kulturell und/oder religiös bedingten Schwierigkeiten verstärken bei Hochbegabten das Gefühl der Zerrissenheit zwischen zwei Welten (vgl. DUBOVAYA, 2008). Hochbegabte Migrantenkinder und –Jugendliche fühlen sich mit dem noch fehlenden kulturellen Kapital der Aufnahmegesellschaft für das (Schul-)Leben nicht ausreichend ausgerüstet. Gravierende Identitätsprobleme, psychosoziale und gesundheitliche Schwierigkeiten sind nicht selten die Folge. So berichten verstärkt Mädchen von Sozialphobien in Form der sehr seltenen Kommunikationsstörung Mutismus (vgl. STANGIER et al., 2003). Mutismus weist nicht allein auf einen kulturellen Schock hin, sondern kann bei Kindern, die in einer anderen Sprachumgebung aufgewachsen sind, auch mit Perfektionismus und hohem Anspruchsniveau zu tun haben – sie beginnen in der neuen Sprache erst dann zu sprechen, wenn sie sich deren Struktur und Wortschatz ausreichend gut angeeignet haben.

TAN versteht schulische Unauffälligkeit begabter Migranten als Coping-Strategie – im Sinne einer Kultur der Bescheidenheit, um Ausgrenzung und der ständigen Spannung zwischen Schule und Familie zu entgehen (2005, S. 15). Die vielen Nachteile, mit denen Migrantenkinder konfrontiert sind, beeinträchtigen ihre Fähigkeiten gravierend und machen sie oft zu unauffälligen Underachievern.

Ausblick – Korrektur des defizitären Blicks

Weshalb es wichtig ist, Hochbegabung bei Heranwachsenden mit Zuwanderungsgeschichte zu identifizieren und zu fördern, wird klar, wenn man ihre vielschichtigen Herausforderungen und die schwerwiegenden Folgen versteht, wenn die Hochbegabung nicht erkannt wird. Für eine Identifikation der Hochbegabung speziell von Migrantenkindern braucht man breites Wissen aus den Bereichen Pädagogik, Psychologie und Soziologie, eine ressourcenorientierte Haltung, Unvoreingenommenheit gegenüber anderen Kulturen und im besten Fall interkulturelle Kompetenzen.

Ob es sich um Hochbegabte mit oder ohne Zuwanderungsgeschichte handelt, langfristig geht es darum, umfassende Bildungsprozesse zu entwickeln, eine neue Kultur der Begabungsförderung zu schaffen und wissenschaftliche Expertise mit schulischem Praxiswissen systematisch zu vernetzen durch:

  1. Talent-Scouting und Talent-Mentoring
  2. Steigende Awareness auch auf bildungspolitischer Ebene
  3. Aus- und Weiterbildung von Lehrern
  4. Mehr Achtsamkeit in der Gesellschaft (z.B. Perspektive Begabung)
  5. Gesetzliche Rahmenbedingungen
  6. Netzwerke
  7. Begabungsforschung (siehe Uni Münster)

Jens Schneiders Blick auf bildungserfolgreiche hochbegabte Erwachsene mit Migrationshintergrund (‚Erfolg nicht vorgesehen‘. 5. Münsterscher Bildungskongress 2015) bestätigt zusätzlich die Notwendigkeit eines Korrekturkurses unserer jetzigen Bildungspolitik und der Versäumnisse der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. Nicht zu vergessen: Das Geheimnis bildungserfolgreicher Migranten liegt auch darin, wie Eltern und Kinder ihre Migrationserfahrungen bewerten.