Inzwischen ist mir öfter die Aussage untergekommen, alle Hochbegabten seien automatisch auch hochsensibel. Das ist aus meiner Sicht nicht zutreffend und beruht auf zwei möglichen Missverständnissen:
Einige meinen, Hochbegabung sei durch einen IQ von > 130 fehlerhaft definiert. Zutreffender sei es, Menschen mit einem mehr als überdurchschnittlichen IQ und zusätzlich weiteren Begabungen, insbesondere Hochsensibilität und/oder hoher Empathie, als hochbegabt zu bezeichnen. Diesem Ansatz bringe ich im Grundsatz zwar Sympathie entgegen, aber die derzeit anerkannte Definition von Hochbegabung lautet nun einmal anders – und wer miteinander reden möchte, sollte zuerst einmal dieselbe Sprache sprechen. Neue Konzepte lassen sich statt durch Neudefinitionen auch (und vielleicht diskursfreundlicher?) durch neue Begriffe einführen. Wir nennen solche Menschen vielbegabt. Mehr dazu hier.
Andere meinen tatsächlich, alle Menschen mit einem IQ > 130 seien auch hochsensibel. Das kann ich mir schon deshalb nicht vorstellen, weil hochintelligente Menschen so vielfältig sind wie alle anderen auch. Unter ihnen gibt es auch Inselbegabte und Asperger-Autisten, Mathematik-Professoren, die sich in ihrer Freizeit mit String-Theorie beschäftigen, Personen, die kriminelle und terroristische Akte begehen (hier werden immer gerne die prominenten RAF-Mitglieder Gudrun Ensslin, Horst Mahler und Ulrike Meinhof genannt), … – kurz, sehr verschiedene „Typen“.
Ich denke, dass diese Ansichten vielmehr in der Beobachtung der sogenannten Hochemotionalität von Hochbegabten wurzeln. Diese äußert sich primär in einem starken Gerechtigkeitssinn (siehe dazu hier) in Verbindung mit starken emotionalen Reaktionen bei Verletzungen der eigenen Prinzipien, Wert- und Moralvorstellungen. Das kann zu emotionalen Reaktionen ähnlich der für Hochsensible typischen führen, hat hiermit aber ursächlich nichts gemeinsam: Hochsensibilität ist eine neurologische Prädisposition, die eine erhöhte Empfänglichkeit für Reize wie z.B. Licht, Gerüche und Geräusche bedingt (mehr dazu hier).
Gerade auch bei hochbegabten Kindern wird häufig eine sehr hohe Emotionalität beobachtet, die sich in Tränenausbrüchen, starkem Mitleiden mit anderen Menschen und Tieren, aber auch Wut- und Verzweiflungsanfällen sowie (Schul-, Interaktions-) Verweigerung kanalisieren kann. Sie beruht schlicht auf der bei Hochbegabten (gerade Kindern) teilweise blitzartig einschlagenden Erkenntnis von Gut & Böse, Ungerechtigkeit, Tragik und/oder Sinnlosigkeit.
Wichtig ist es (gerade bei Kindern), diese Emotionalität anzunehmen und weder kleinzureden („Weltschmerz“) noch zu verdammen („du musst dich beherrschen lernen!“). Vielmehr sollten Eltern und Pädagogen oder auch Coaches und Therapeuten Wege aufzeigen, Empörung und Mitgefühl in konstruktive Bahnen durch soziales und/oder politisches Engagement, kreative und/oder sportliche Aktivitäten zu lenken.