Mal wieder eine schlaflose Nacht gehabt, weil du deinen eigenen Ansprüchen nicht genügt hast? Weil du denkst, unwillkürlich durch eine unbedachte Bemerkung eine gute Freundin verletzt zu haben? Weil du versuchst, eine soziale Regel einzuhalten, von deren Unsinnigkeit du unbedingt überzeugt bist? Kurz, weil du deinen eigenen Maßstäben und denen des relevanten Umfelds versuchst gerecht zu werden und sie partout nicht übereinander bekommst?
In der Persönlichkeitspsychologie werden im Standard-Modell der „Big Five“ fünf grundlegende Persönlichkeitsmerkmale unterschieden, namentlich Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus. Die Gewissenhaftigkeit beschreibt dabei den Grad an Selbstkontrolle, Genauigkeit und Zielstrebigkeit des Verhaltens einer Person. Gewissenhafte Menschen handeln danach organisiert, sorgfältig, planend, effektiv, verantwortlich, zuverlässig und überlegt, und zwar gemessen an den Erwartungen ihrer Umwelt.
Gewissenhaftigkeit wird also für Hochbegabte besonders dann zum Problem, wenn ihre Wert- und Zielvorstellungen, ihre sozialen Normen und/oder ihre inhaltlichen Ansprüche von denen des relevanten sozialen Umfelds abweichen. Gerade das ist aber für Hochbegabte typisch, weil sie eben immer noch „eine Ecke weiter“ denken und sich mit der bloßen Existenz oder Sanktionierung einer Regel nicht zufrieden geben, sondern jede Norm auf ihren Sinngehalt prüfen und ggf. auch „aus Prinzip“ ablehnen. Solche Nonkonformität bis hin zum Regelbruch ist eine der typischen Verhaltensweisen, durch die Hochbegabte regelmäßig „anecken“.
Allein dieses „Anecken“ macht Hochbegabten das Leben schon nicht leichter. Geht aber die intellektuelle Hochbegabung auf der Ebene der Persönlichkeit mit einer hohen Gewissenhaftigkeit einher, dann kommt es zu den typischen Folgen: 120%-iger Perfektionismus, der von niemandem wertgeschätzt wird, innerliche Zerrissenheit, nicht gleichzeitig den sozialen und den eigenen Ansprüchen gerecht werden zu können, ewiges „Grübeln“ vor Entscheidungen, weil so viele Konsequenzen abgewogen werden, sich für „Kleinigkeiten“ „einen Kopf“ und „aus einer Mücke einen Elefanten“ machen, große Schuldgefühle bei kleinen (nur selbst wahrgenommenen) Regelübertretungen, langwierige Planungen „eigentlich“ einfacher Vorhaben, Rückzug aus sozialen Zusammenhängen (z.B. am Arbeitsplatz, in Vereinen, der Familie) aufgrund Überforderung, sowohl dem inneren als auch dem äußeren Maßstab voll zu entsprechen.
Auch wenn ich grundsätzlich ein sehr optimistischer Mensch bin: Hohe Intelligenz und hohe Gewissenhaftigkeit zusammen führen dazu, dass entweder die typisch hochbegabten Verhaltensweisen oder die gewissenhaften Persönlichkeitsanteile nicht befreit und entspannt ausgelebt werden, oder, und das ist dann eben schon der bessere Fall, zu einem recht hohen Energieverbrauch. Kommen noch Hochsensibilität und hohe Empathie dazu, potenziert sich das Problem noch einmal, weil die emotionalen Reaktionen auf die (häufig nur von dir selbst wahrgenommenen) Dilemmata sich noch einmal verstärken und zugleich noch das eigene Ruhebedürfnis als dritter in Rechnung zu stellender Faktor hinzukommt.
Um diesen hohen Energieverbrauch zu reduzieren, empfiehlt sich – wie immer – sich die eigenen Besonderheiten erst einmal völlig klar und bewusst zu machen. Danach sind zwei Dinge wichtig: Menschen, die ähnlich „ticken“, und dir das feedback geben: „du bist okay mit deinen komplexen Ansprüchen“, sowie die Entwicklung von Routinen im Hinblick auf das „Managen“ beider Anspruchsseiten, also ein automatisiertes „Abchecken“: was ist der sozial gültige Maßstab? was ist mein Maßstab? gibt es eine Divergenz? wie kann ich diese pareto optimal auflösen? wie gehe ich emotional damit um, dass diese Lösung nicht 2 x 100% erreicht?
Einen Trost gibt es immerhin: Bist du dir deiner eigenen Gewissenhaftigkeit sehr bewusst, wirst du andere Menschen in dein Umfeld ziehen, die gerade diesen Wesenszug an dir zu schätzen wissen und dich trösten können, solltest du dich mal wieder in deinen eigenen Ansprüchen „verzettelt“ haben.
Antje Heyer, mit Inspirationen von Eva Schürlein