Ist das überhaupt möglich: hochbegabt sein und trotzdem glücklich leben? Das ist eine provokante Frage, die einen recht banalen Hintergrund hat:

Wer große intellektuelle Fähigkeiten hat tendiert dazu, alles in Frage zu stellen und zu überdenken.

Wirklich alles: die möglichen Konsequenzen der Entscheidung für ein neues Duschgel, die Implikationen der Wahl eines merkwürdigen Menschen zum Präsidenten eines großen Landes oder alle möglichen Folgen einer nächtlichen Toilettenspülung. Selbstverständlich sind diese Überlegungen nicht alle gleich gewertet, es gibt wichtigere und unwichtigere, aber die Tatsache, dass immer alles durchdacht und durchleuchtet wird, bleibt anstrengend für die Hochbegabten selbst und für ihre Mitmenschen.
Denn oft führt diese extreme Reflektiertheit zu Verzögerungen und zu scheinbar erratischem Verhalten. „Spontane“ Entscheidungen werden nicht nur intuitiv getroffen (also als Ergebnis der vorbewussten Erfahrung), wenn sie überhaupt getroffen werden, dann sind sie immer bis zu einem gewissen Grad auch durchdacht. Dennoch kann ein unvollkommenes Durchdenken von Konsequenzen den Hochbegabten so lange stressen, bis er die realen Konsequenzen sehen und verarbeiten kann.

Das Gefühl, leichtsinnig und achtlos entschieden zu haben, verträgt sich nicht mit dem Perfektionsanspruch. Dieses mehr oder weniger bewusste Streben nach Perfektion liegt wieder darin begründet, dass die hochbegabte Person eben erkennen kann, wie etwas im Idealfall gelöst werden könnte, auch wenn die eigenen Fähigkeiten dazu nicht ausreichen. (Mehr zum  Perfektionismus hier.) Man kann sich das perfekte Gemälde vorstellen, beherrscht aber die Technik nicht ausreichend, um es zu verwirklichen. Ständig an den eigenen Ansprüchen zu scheitern macht unglücklich. Genauso ist das ständige Wahrnehmen der Ungerechtigkeiten in dieser Welt eher deprimierend. Schlechte Voraussetzungen für Glück, wie es scheint.

Aber natürlich ist es möglich, als Hochbegabter Mensch glücklich zu sein!

Neben der erwähnten Reflektiertheit, den Selbstzweifeln, dem Perfektionismus, dem extremen Gerechtigkeitsempfinden (mehr zu Hochbegabung und Gerechtigkeit hier) und all den anderen kleinen und großen Steinen, die die Hochbegabung uns in den Weg legen kann, sind wir doch vor allem auch sehr lernfähig. Und genau das kann uns den Weg zum Glück in hohem Maße ebnen, wenn wir bereit dazu sind. Denn es gibt ihn, Deinen Weg zum Glücklichsein, versprochen.

Nur: Glück ist nicht gleich Glück… wovon genau reden wir hier?

Die Hirnforschung sagt, dass Glück kein dauerhafter Zustand sein kann, sondern einen flüchtigen Moment erfüllt. Wir sprechen vom überwältigenden Moment einer rauschhaften Empfindung, ausgelöst durch bestimmte Botenstoffe im Gehirn. Ob durch Schlüsselreize, körperliche Faktoren wie Orgasmen oder den Flow im Sport, durch Drogen oder die Hingabe an den Moment einer Wunscherfüllung – das körperliche Empfinden produziert das Glücksgefühl. Wenn Hoffnungen erfüllt werden, der ersehnte Partner den Heiratsantrag annimmt, dann ist das nur dann ein wahrhaft glücklicher Moment, wenn die körperlichen Reaktionen entsprechend ausfallen. Ist die entsprechende Ausschüttung der Endorphine aus irgendeinem Grund nicht möglich, beispielsweise durch eine Depression, dann gibt es eben auch kein Glücksgefühl. Wir können aber lernen, diese Ausschüttung von Glückshormonen gezielt herbeizuführen. (Oder, im Falle einer Depression, die Störung des Hormonhaushaltes behandeln.) Das ist ein Aspekt des Glücks.

Ein anderer Aspekt des Glücks ist das geglückte Leben. Hier sprechen wir von Lebenskunst. Seit der Antike immer wieder ein Thema das von großen Geistern und Weisen aufgegriffen und beleuchtet wurde und wird. Wer tugendhaft lebt, und gewissen Regeln folgt, erhöht die Frequenz der Glücksmomente in seinem Leben: er ist häufiger glücklich. (Hier findest Du einen Einstieg in dieses große Thema Glücksmomente.) Die Tugenden und Regeln wurden durch die Zeiten immer wieder anders formuliert, ähneln sich aber letztendlich: es ist eine Schulung des Geistes, sich von den schmerzhaften Aspekten des Lebens weg, mehr den positiven Aspekten des Daseins zuzuwenden. Auch hier wird Glück nicht als Dauerzustand verstanden, sondern eher als Leitstern, der für Momente erreichbar ist.

Einen weiteren Bestandteil des Glücks, nämlich die Fähigkeit, überraschende und unerwartete glückliche Fügungen als solche zu erkennen, nennt man Serendipität. Mit einer gewissen Offenheit für Glücksmomente durchs Leben zu gehen, dafür kannst Du Dich bewusst entscheiden. Und diese Entscheidung kann dein Leben auf Dauer substantiell glücklicher machen. Falls Du ein vielbegabter Scanner (mehr dazu hier) bist, so bist Du hier durch Deine ohnehin vorhandene Offenheit für Neues und Unbekanntes klar im Vorteil! Aber die meisten hochbegabten Menschen nehmen ständig sehr viele Informationen auf und sind gut darin, auch ungewöhnliche Verknüpfungen herzustellen. Der Fokus auf die positiven, glücklichen Fügungen ist eine Frage der Selbstdisziplin – hier lohnt sich beharrliches Üben.

Die dauerhafteste Seite des Glücks ist wohl die Zufriedenheit. Wahrhaft zufriedene Menschen sind selten. Es scheint eine ganz bestimmte Geisteshaltung zu erfordern, mit dem eigenen Leben in aller Unvollkommenheit Frieden zu schließen.
Dazu muss ich in erster Linie selbst entscheiden, was meine wesentlichen Glücksfaktoren sind. Ob ich zufrieden bin, wenn ich mit meiner Familie frei von Angst und Sorge am Abend gemeinsam am Esstisch sitze, oder erst wenn ich einen sechsstelligen Betrag auf meinem Konto habe, das ist meine eigene Entscheidung.
Beziehungsweise Deine: Du musst nicht immer perfekte Ergebnisse erzielen, und wir können davon ausgehen, dass Du ohnehin Dein eigener schärfster Kritiker bist. Viele Deiner Ziele hast Du Dir selbst gesetzt, niemand diktiert Dir Deine Ansprüche. Und je realistischer diese sind, je klarer Du das wertschätzt, was bereits in Deinem Leben vorhanden ist, desto zufriedener bist Du.

Mit dem eigenen Leben in all seiner Unvollkommenheit Frieden zu schließen – das ist machbar, auch für Hochbegabte.

Mir ist bewusst, dass dieses Vorhaben gleichzeitig sehr komplex, und doch ganz einfach ist. Wie die meisten wirklich wichtigen Dinge im Leben: Liebe, Elternschaft, Erfolg, Glück… es lohnt sich, diese Themen mit dem brillanten Verstand und dem offenen Herzen zu erforschen, und immer mit viel Mitgefühl für Dich selbst. Dir ganz bewusst Glücksgefühle zu gönnen, immer wieder Glücksmomente zu suchen und Dich in Serendipität zu üben trägt zu Deinem Glück genauso bei wie das Streben nach Zufriedenheit.
Ich wünsche Dir viel Erfolg auf Deinem persönlichen Weg zum Glück, denn glücklich zu sein ist eine Lebensaufgabe – vielleicht die, die wir am leichtesten vergessen, und gleichzeitig die, die den größten Einfluss auf unser gesamtes Leben hat.